Lina Lam ist ausgebildete Yogalehrerin, Community-Builderin für die deutsch-asiatische Community und Vorstandsvorsitzende von "Generation Postmigration", einem postmigrantischen Dachverein in Hannover. Auf ihrem Instagram-Kanal @heylinalam vereint sie Themen wie Achtsamkeit, Empowerment und Sichtbarkeit von Asiatisch-Deutschen. Was es bedeutet, achtsam zu empowern und welche Rolle Online-Communities dabei spielen können, erzählt sie uns im Interview.
Ngoc Bich Tran: Der Begriff „Achtsamkeit“ begegnet uns ja mittlerweile fast überall. Was bedeutet Achtsamkeit?
Lina Lam: Als Grundsatz im Yoga geht es bei der Achtsamkeit darum, eine Verbindung zu sich selbst herzustellen, also sowohl zum Körper als auch zu den Emotionen und dem Geist, damit so etwas wie eine Einheit entstehen kann, mit der wir uns und unsere Bedürfnisse besser wahrnehmen können. Zu lernen, Gefühle zuzulassen, die wir vielleicht im ersten Moment nicht spüren wollen, die aber genauso ein Teil von uns sind und es deswegen wichtig ist, sie zu spüren. Ihnen den Raum zu geben, der ihnen als Teil von uns gebührt und sich gleichzeitig aber nicht von ihnen überwältigen zu lassen.
Wie kann uns Achtsamkeit im Alltag helfen und was bedeutet achtsames empowern?
Viele Menschen, die zum Beispiel Rassismus erfahren, kommen in Situationen, die sie innerlich aus dem Gleichgewicht bringen, indem unangenehme Gefühle hervorgerufen werden, die sie erstarren oder aus dem Affekt heraus handeln lassen. Und das ist ein Punkt, an dem Achtsamkeit andocken kann und sagen kann, hey, es ist gerade passiert, ja, und du fühlst dich so, wie du dich jetzt gerade fühlst, das ist unangenehm, aber du bist dem nicht ausgeliefert, sondern hast Optionen und Möglichkeiten, trotz allem bewusst zu handeln. Ich glaube, dass in Achtsamkeit sehr viel Potenzial und sehr viel Kraft für viele Menschen steckt, denn indem ich mit mir selbst in Verbindung gehe, mit all meinen Anteilen, kann ich lernen, mich und meine Bedürfnisse besser wahrzunehmen. Das ist vor allem wichtig, um das eigene Wohlbefinden sicherstellen zu können.
Für mich spielt Achtsamkeit in vielen Lebensbereichen eine große Rolle, vor allem bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Einerseits, um zu erfahren, was meine eigenen Bedürfnisse sind und andererseits, um zu verstehen, warum ich mich in manchen Situationen so verhalte, wie ich mich verhalte. Denn wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse nicht wahrnehmen, dann können das andere auch nicht und dann werden unsere Bedürfnisse immer ignoriert oder übergangen und wenn das regelmäßig passiert, wird das unweigerlich zu Unzufriedenheit und Unwohlsein führen. Achtsam empowern heißt für mich also, zu lernen, diese Verbindung zu mir selbst herzustellen und alle Anteile von mir bedingungslos zu akzeptieren, um letztendlich Kraft daraus schöpfen zu können.
Heißt das, Empowerment bedeutet für dich, achtsam zu sein?
Ja, bzw. gehört Achtsamkeit für mich zu Empowerment dazu. Achtsamkeit zu üben stärkt uns von innen heraus und empowert deswegen auch. Empowerment bedeutet ja ursprünglich, dass sich marginalisierte und strukturell benachteiligte Menschen gegenseitig bestärken, um gemeinsam für soziale Gerechtigkeit kämpfen zu können. Und Achtsamkeit kann dafür ein sehr wertvolles Mittel sein.
Auf deinem Instagram Account @heylinalam gibst du beispielsweise Tipps im Umgang mit Rassismuserfahrungen. War es schon immer dein Ziel, dein Wissen dafür zu nutzen?
Als ich den Account gestartet habe, habe ich mir überlegt, für wen ich etwas anbieten möchte. Ich denke, dass der Beginn der Pandemie schon ein großer Treiber für mich war, weil anti-asiatischer Rassismus seitdem so viel präsenter geworden ist und ich dadurch auch mehr den Kontakt zu anderen BIPOC und asiatischen Deutschen gesucht habe. Die Themen Rassismus und Diskriminierung kamen dabei immer wieder auf. Das ist für viele ein wirklich großes Thema und dadurch habe ich mich auch noch mal mehr damit beschäftigt und mit der Frage, inwiefern ich mein Wissen für Rassismuserfahrungen nutzen kann.
Und wie gelingt dir das?
Unser Körper reagiert auf Gefühle. Vor allem starke Emotionen können sich dabei in unserem Körper niederschlagen, wenn wir sie über einen längeren Zeitraum nicht verarbeiten. Ein ganz klassisches Beispiel dafür ist Stress. Wenn wir für längere Zeit Stress ausgesetzt sind und ihn nicht verarbeiten, dann schlägt sich das häufig im Schulter-Nacken-Bereich nieder. Die Muskulatur verhärtet sich und diese Verhärtung bleibt bestehen, auch wenn wir gerade eigentlich gar nicht mehr in der Stresssituation sind – der Stress hat sich sozusagen verfestigt. Und Yoga kann dabei helfen, durch verschiedene Übungen und Bewegungen diese Blockaden, die wir durch den Stress aufgebaut haben, wieder aufzulockern und damit auch diese starken Emotionen zu lösen, indem wir bewusst mit uns in Verbindung treten, dem Körper und den Emotionen. Im traumasensiblen Yoga wird beispielsweise nochmal ganz besonders der Fokus auf das Wahrnehmen und Spüren gesetzt.
Was hat Trauma mit Yoga zu tun?
Menschen, die traumatisiert sind, dissoziieren häufig, das heißt, sie verlieren die Verbindung zu ihrem Körper und ihren Emotionen. Sie werden förmlich taub oder stumpfen ab. Und traumasensibles Yoga ist darauf ausgelegt, Menschen dabei zu helfen, sich und ihren Körper wieder zu spüren, damit man lernt, sich und seine Emotionen besser wahrzunehmen. So ist man in der Lage, negative Gefühle besser zu verarbeiten.
Ich persönlich merke aber auch, dass es runterziehen kann, sich viel mit emotional aufgeladenen Themen wie z.B. Rassismus zu beschäftigen und da versuche ich, mit meinem Account so einen Gegenpol zu schaffen: Ein Raum, in dem sich Menschen von den schwierigen, kräftezehrenden Themen wieder erholen können. Und da spielt Achtsamkeit für mich eine ganz wichtige Rolle, um diesen Rückzugsort und damit die Möglichkeit des Krafttankens zu bieten.
Deinem Account folgen mittlerweile knapp 1000 Menschen – Tendenz steigend. Was möchtest du mit deiner Reichweite bewirken?
Ich habe den Account gestartet mit dem Ziel, Sichtbarkeiten von BIPOC/asiatisch gelesenen Menschen im Yoga zu schaffen. Davon habe ich mich mittlerweile weiterentwickelt in dem Sinne, als dass ich den Begriff „Yoga“ inzwischen weniger öffentlich verwende, weil Yoga in unserer Gesellschaft oft missverstanden wird als eine Art Sport, was es für mich nicht ist. Für mich hat Yoga nichts mit Leistung oder Performanz zu tun und diesen Gedanken von Leistung gibt es im Yoga ursprünglich gar nicht. Das ist eher eine neumodische Erscheinung.
Ich persönlich finde es schade, dass im Mainstream Yoga nur als hochästhetischer Sport verstanden wird, der nur von ganz bestimmten, meist privilegierten Menschen ausgeführt wird. Viele der berühmtesten oder wichtigsten Menschen im Yoga sind weiß und das ist schon sehr schade. Damit kann ich mich nicht identifizieren, denn natürlich spielt für mich das Thema Sichtbarkeit auch im Yoga eine Rolle. Mittlerweile suche ich gezielt nach BIPOC-Yoga-Praktizierenden. Aber ich sehe auch, dass sich da gerade etwas Neues entwickelt: Frauen, die wirkliche Pionierarbeit leisten und die die Themen Yoga, Meditation und Rassismus zum Beispiel auch, wie ich, in ihrer Praxis zusammenbringen.
Als Community-Builderin veranstaltest du jeden Monat Brave Spaces1 für Deutsch-Asiat*innen. Was ist das Ziel dieser Brave Spaces?
Mein Ziel ist es, eine Gemeinschaft mitzuentwickeln, die anderen Menschen wie mir das Gefühl von Zugehörigkeit und Halt gibt. Praktisch eine Art Heimat, die es vorher noch nicht gab. Ich weiß, dass es vielen aus der asiatisch-deutschen Community wie mir geht – dass sie sich weder in Deutschland ganz zu Hause fühlen noch im jeweiligen Land, aus dem ihre Familien stammen. Viele sind relativ isoliert aufgewachsen, mit wenig Kontakt zu anderen asiatisch gelesenen Menschen und hatten dadurch wenig Möglichkeit, ihre Erfahrung mit anderen Menschen, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben, zu teilen.
Und ich merke einfach, wie heilsam das für viele Menschen ist, auf andere, eigentlich wildfremde Menschen, online zu treffen, und zu merken, hey, da ist was, das uns verbindet und zwar auf einer ganz tiefen Ebene, die unser Leben, unsere Kindheit, unsere Jugend geprägt hat. Und dir muss ich mich nicht erklären, denn du verstehst mich, weil du die gleichen Erfahrungen gemacht hast wie ich.
Für mich ist es noch immer sehr berührend zu sehen, wie lebendig diese Community ist und wie viele Menschen sich mit ihrem Wissen und ihren Geschichten regelmäßig einbringen. Ich war mein ganzes Leben immer auf der Suche nach diesem Ort, an dem ich mich richtig dazugehörig fühlen kann oder wo ich nicht irgendwie anders war als alle anderen und ich glaube, dass wir mit unserer Online-Community ein Stück weit so einen Ort erschaffen haben.
Wie sehen deine Visionen für deine Arbeit aus? Irgendwelche Ziele für die Zukunft?
Ein Traum von uns allen (der deutsch-asiatischen Comunity) ist es, glaube ich, dass – wenn es irgendwann endlich möglich ist – wir uns in echt treffen können. Bisher lief ja alles pandemiebedingt online ab und ich glaube, wenn wir es mal schaffen sollten, auch regionale Treffen zu ermöglichen, wäre das ein cooles Erlebnis für alle von uns. Das ist meine Vision.
1 Das Konzept des "Brave Spaces" wurde von Brian Aroa und Christi Clemens (2013) in dem achten Kapitel "From Safe Spaces to Brave Spaces" ihres Buches "The Art of Effective Faciliation: Reflection from Social Justice Educators" formuliert. Nachzulesen hier: https://www.gvsu.edu/cms4/asset/843249C9-B1E5-BD47-A25EDBC68363B726/fro….